07. Juni 2022 Lesezeit: ~8 Minuten

Wie viel Fotografie steckt in In-Game-Fotografie?

Als Fotografin und Gamerin bin ich schon lange Fan des sogenannten „Fotomodus“ in Spielewelten. Auf dem Weg zu großen Kämpfen bleibe ich immer wieder an den atemberaubenden Ausblicken hängen oder entdecke kleine visuelle Details auf meiner Suche nach Schätzen, die ich dann mit meiner virtuellen Kamera festhalte. Ich bin damit nicht allein: Das Genre nennt sich „In-Game-Fotografie“ und auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #gamergram über 600.000 In-Game-Fotos.

Ich habe mich gefragt, wie ernst diese Art der Fotografie ist und welche Unterschiede es zur realen Fotografie gibt. Mit Rainer Sigl habe ich einen großartigen Gesprächspartner für das Thema gefunden. Er schreibt für unterschiedliche Medien (nicht nur) über Computerspiele und beschäftigt sich seit 2012 mit dem Phänomen In-Game-Fotografie.

Hallo Rainer, kannst Du Dich an das erste Spiel erinnern, in dem Du bewusst den Fotomodus benutzt hast, um ein Bild festzuhalten?

Ich spiele schon bedeutend länger, als es so etwas wie einen Fotomodus in Spielen überhaupt gibt – eines der ersten Spiele, in denen ich von der Ästhetik so fasziniert war, dass ich Screenshots gemacht und sie dann als Wallpaper verwendet habe, muss wohl Morrowind gewesen sein. Das war 2002 ein großes Open-World-Rollenspiel aus der First-Person-Perspektive, in dem ich Display-Elemente wie Gesundheitsanzeige etc. ausgeblendet habe, um Landschaft und Architektur zu „fotografieren“.

Hast Du in Deiner Antwort „fotografieren“ in Anführungszeichen gesetzt, weil es damals noch keinen Fotomodus gab oder weil Du die In-Game-Fotografie klar von der bisherigen Fotografie abgrenzen möchtest?

Beides, ein bisschen. Es war damals (und lange Zeit später auch) tatsächlich ein sehr unfotografischer Vorgang: Tastendruck PrtScr, dann das Bildbearbeitungsprogramm öffnen und den Screenshot einfügen und abspeichern. Die modernen Fotomodi bieten ja längst viel mehr Komfort: Blickwinkelwahl, Licht- und Belichtungseinstellungen, Fokus, Schärfe und so weiter, also tatsächlich ans Fotografieren angelehnt. Damals gab es nur: Bildschirmaufnahme, fertig.

Seit damals haben sich nicht nur die Möglichkeiten des Fotomodus stark verändert, sondern auch die Grafik der Spiele. Fotos aus aktuellen Spielen wie Cyberpunk 2077 oder Horizon Forbidden West sieht man nicht immer auf den ersten Blick an, dass es keine Fotos der realen Welt sind. Wie wichtig ist es für die Spielefirmen, so nah wie möglich an die Realität zu kommen?

Der Grafikfetisch der Gamesindustrie ist bekannt, das breite Publikum folgt ihm, weil „Fotorealismus“ ein historisches Ziel ist, dem man längst nahekommt. Künstlerisch interessantere Zugänge gehen daneben oft unter, weil es diesen Fetisch Fotorealismus gibt. „Gute Grafik“ ist und war halt die längste Zeit möglichst jene, die sich nicht von Film bzw. der Realität unterscheidet.

Hier fühlt man sich ein bisschen in die Zeit der Malerei des 19. Jahrhunderts versetzt: Wenn malerischer Ultrarealismus erreicht ist, was bleibt dann künstlerisch noch übrig, noch dazu, wenn zugleich technische Fortschritte, eben die historische Fotografie, dieses Ziel viel besser erfüllen als Malerei? Der Schritt ins Künstlerische – also ins Abstrakte, in die Dekonstruktion – erfolgt bei Videospielen aktuell eher abseits der großen Blockbusterspiele. Die sind eben risiko-avers, weil sie Millionenkosten einspielen müssen.

Blick aus einem Autofenster

backseats in videogames © Leonardo Sang; ebenso das Titelbild

Aber vergrößert die bessere Grafik zumindest die Akzeptanz der In-Game-Fotografie?

Dass es überhaupt eine generelle „Akzeptanz“ von In-Game-Fotografie gibt, auch oder vor allem in der Fotoszene, kann ich nicht bestätigen oder beurteilen. Die Welten sind, soweit ich das sehe, immer noch recht stark getrennt, weil In-Game-Fotografie ja oft immer noch als eher minderwertig bzw. ultra-nischig betrachtet wird: Da wird ein künstliches Pop-Produkt abgebildet und ausgestellt, wo ist die künstlerische Leistung? Ist das Produktfotografie, also letztlich alles eine Art Marketing/Werbung für das jeweilige Spiel? Das ist doch keine Kunst, etwa genauso, wie in einer Filmvorführung zu fotografieren?

Das Vorurteil übersieht natürlich die Beschaffenheit moderner Videospiele als offene Räume, in denen der Blickwinkel subjektiv gewählt werden kann. Ich sehe In-Game-Fotografie in dieser Hinsicht analog zur Architekturfotografie: Ich habe das Haus nicht gebaut, mein Bild davon kann aber fotografisch interessant sein.

Den Vergleich zur Architektur finde ich spannend. Und er erinnert mich an Red Dead Redemption. In diesem Spiel ändert sich nicht nur das Wetter, sondern sogar der Sonnenstand wandert mit der Zeit, wodurch sich die Schatten in den Straßen verändern. Natürlich ist es etwas komfortabler, im Spiel auf Nebel oder Sonnenuntergang zu warten, als im realen Leben. Aber ich warte eben auch auf den richtigen Moment.

Im Spiel muss ich nicht unbedingt warten, viele Fotomodi geben mir sogar die totale Kontrolle über Wetter, Tageszeit und Licht. Da wird der Vergleich zur Fotografie schon brüchig: Ich arrangiere buchstäblich mein Diorama, der „richtige Augenblick“ ist de facto kein Kriterium mehr.

Wie gut kennst Du die In-Game-Fotoszene? Wer sind die Personen, die den Fotomodus nutzen?

Ich habe vor fast genau zehn Jahren die damals noch kleine Szene journalistisch auf meinem Blog und in ein paar Artikeln für Killscreen, Zeit.de und FM4 beleuchtet, damals war ich damit wohl einer der ersten, der diese Szene ein bisschen vor den Vorhang geholt hat. Seitdem hat sich das Feld vor allem in Sachen Massenappeal verbreitert, vor allem auch, weil der Grafikkartenhersteller nVidia mit seiner Software Ansel die Szene vergrößert hat und weil viele auch für Konsolen erscheinende Videospiele eigene Fotomodi zu bieten haben.

Die von mir damals genannten Namen meiner Meinung nach interessanter Künstler*innen – vor allem Leonardo Sang und Duncan Harris – sind zum Teil noch immer aktuell. Harris sah und sieht sich allerdings eher in der Tradition der filmischen Still Photography und arbeitet konsequenterweise auch eng mit den Herstellerfirmen zusammen. Er macht also kommerzielle High-Gloss-Fotografie, um die Spiele besonders „gut“ aussehen zu lassen. Damit entspricht er auch den Wünschen der großen Spielergemeinde, der es eben nicht so sehr um Fotografie, sondern vielmehr um das Ausstellen besonderer Schauwerte und den Wow-Effekt beim Zeigen bekannter Figuren geht.

Leonardo Sang und andere nähern sich dem Ganzen eher von der künstlerischen, fotografischen bzw. medienkünstlerischen Seite. Kent Sheely und Eron Rauch, damals auch kurzzeitig Gastautoren auf meinem Blog, haben mit ihrer Ausstellung Screen Knowledges eine diesbezügliche Nische eröffnet. Alles in allem ist meines Wissens die Popularität von In-Game-Fotografie ein reines Videospielkultur-Phänomen geblieben – auch aus rechtlichen Gründen.

Surreale Grafik aus braunen Felsen

Glitchscapes © Eron Rauch

Wie sieht es denn rechtlich aus? Darf ich ein Bild, das ich in game gemacht habe, veröffentlichen oder gehört es streng genommen der Spielefirma?

Rechtlich ist das alles eine Grauzone. Meine Recherchen damals haben ausweichende Antworten von Anwält*innen der Spielebranche gebracht: Letztlich liegen die Rechte an den Bildern ausschließlich bei den jeweiligen Spieleherstellern, bei nichtkommerzieller Verwendung betrachten diese das Feld aber wohl eher als Gratiswerbung. Interessant bzw. problematisch würde das Ganze wohl erst, wenn es um Ausstellungen, Veröffentlichungen oder sonstige kommerzielle Nutzung geht.

Soweit ich weiß, waren alle bisherigen größeren Ausstellungen der Nische von den Rechteinhabern abgenickt, das unterscheidet das Ganze fundamental vom gewohnten Fotografieren. Die Frage nach der künstlerischen Eigenleistung müsse an der künstlerischen Höhe beurteilt werden, war damals die Auskunft – ein Ausjudizieren eventuell strittiger Verwendungen gab es aber bislang meines Wissens nicht.

Als Fotografin bin ich tatsächlich bisher sehr geblendet von den großen fotorealistischen Produktionen. Welche Spiele würdest Du mir als Alternative in Sachen Bildwelten empfehlen?

Mich interessiert an Videospielen eher die Differenz zur Realität. Also nicht unbedingt der Fotorealismus, sondern die Darstellung von Dingen, die es eben nur in Videospielen gibt. Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür ist NaissanceE, das es inzwischen sogar kostenlos gibt. Die davon inspirierten Spiele des jungen Hamburger Entwicklers Moshe Linke sind ebenso faszinierende Orte.

Ich konnte NaissanceE bisher nur antesten, aber es ist tatsächlich nicht nur grafisch sehr spannend, sondern insgesamt ein audiovisuelles Erlebnis. Vielen Dank für den Tipp und das spannende Gespräch!

Ähnliche Artikel