27. Mai 2022 Lesezeit: ~20 Minuten

Durch Deutschland: Zwei Wanderungen in 101 Tagen

Von West nach Ost, von Süd nach Nord: In zwei Wanderungen durch Deutschland hat Andreas Teichmann mit seiner Kamera die zufälligen und oft intensiven ­Begegnungen festgehalten. Insgesamt hat seine Reise zu Fuß 101 Tage gedauert. Im Gespräch mit ihm wollte ich wissen, wie man eine solche Reise plant und welche Momente besonders in Erinnerung bleiben.

Hallo Andreas. 101 Tage ist eine so schöne Zahl für einen Buchtitel. Ist das Zufall oder war Deine Reise so perfekt geplant?

Es ist zum Teil ein Zufall. Eigentlich hatte ich geplant, zweimal 50 Tage zu wandern. Als ich 2017 meine erste Wanderung von West nach Ost geplant hatte, hatte ich noch keinerlei Referenz. Ich laufe zwar sehr gern, aber ich bin kein trainierter Sportler und wusste nicht, ob ich das Projekt, von Aachen nach Zittau zu wandern, überhaupt körperlich schaffen würde.

In der Vorbereitung habe ich die Strecke bei Google Maps eingegeben und da wurden mir etwa 960 Kilometer angezeigt. Diese Angabe habe ich dann ganz naiv abgeleitet, einfach durch 50 Tage geteilt und dabei kamen etwa 20 Kilometer am Tag heraus. Das schien mir machbar, wenn ich zwischendurch auch noch fotografieren und mich mit Menschen, die mir begegnen, unterhalten möchte.

Zudem habe ich eine Testwanderung über 100 Kilometer gemacht und diese auch in fünf Tagen geschafft. Ich war danach zwar ziemlich kaputt, denn die gewählte Strecke von Eisenach nach Kassel war auch topografisch sehr anspruchsvoll. Wirklich sicher, ob ich die 50 Tage schaffen könnte, war ich damals nicht. Ich hatte einfach gehofft, dass ich mit der Zeit trainierter werden würde und wollte es einfach wagen.

Erfahrene Wanderer hatten mir noch den Tipp mitgegeben, dass ich keine Pausen machen dürfte, denn danach kommt man nicht wieder hoch. Also wusste ich, dass ich es in 50 Tagen durchziehen und die Strecke am Stück laufen musste.

Um jetzt auf die 1 in 101 zu kommen: Nach meiner ersten Wanderung 2017 bin ich zwei Jahre später noch einmal von Süden nach Norden durch Deutschland gewandert. Die Strecke ist mit über 1.200 km Länge etwas weiter, aber ich habe gedacht: Mit meiner Erfahrung laufe ich diesmal 24 km am Tag. Nach 50 Tagen bin ich auch auf Westerland angekommen, hatte damit aber noch nicht den nördlichsten Punkt Deutschlands erreicht. Ich war am südlichsten Punkt Deutschlands am Haldenwanger Eck, 20 km südlich von Oberstdorf auf dem Berg gestartet und wollte auch wirklich am nördlichsten Punkt enden. Deshalb habe ich noch diesen 51. Tag drangehangen so ergaben sich am Ende 101 Tage.

Wanderer auf einem Berg

Tag 1, Bayern, Oberallgäu: Haldenwangereck, der südlichste Punkt Deutschlands. Kerstin und Manfred Hübner aus Zwickau wandern gern in den Alpen und sind erstmalig am südlichsten Punkt Deutschlands. Nach der Wende sind sie erst einmal mit den Kindern durch Europa geflogen. Jetzt, da die Kinder groß sind, fokussieren sie sich auf die alten Bundesländer.

Das finde ich auch eine viel schönere Zahl im Buchtitel als die runde 100. Wenn Du sagst, dass Dir empfohlen wurde, keine Pausen zu machen: Das geht doch gar nicht, oder? Du musstest doch stehen bleiben, um zu fotografieren.

Ja, da hast Du recht. Damit war auch nicht die Pause zum Fotografieren gemeint, sondern die körperliche Entspannungspause. Viele Menschen, die solche Strecken wandern, machen in der Regel nach sechs Tagen einen Ruhetag. Aber ich bin nicht gewandert, weil ich wandern wollte, sondern ich wollte mich langsam durch Deutschland bewegen. Ich wollte anhalten können, wann ich wollte, alles in Ruhe wahrnehmen und natürlich fotografieren. Und dafür gibt’s nichts Besseres als das Gehen.

Ich bin größtenteils auch nicht auf den Wanderwegen unterwegs gewesen, sondern einfach durch Städte und Dörfer gelaufen, die mich zum nächsten Ziel gebracht haben. Und ich bin auch unorthodox gewandert, weil ich nicht nur durch „schöne Landschaften“ gegangen bin, sondern durch die Gegenden, die sich mir durch den Streckenvorschlag der App letzten Endes ergeben haben. Das war auch das Ziel, ich wollte mich darauf einlassen. Wie ein kleines Kind wieder staunen und anhalten, wenn mir danach ist. Das habe ich sehr viel getan.

Mann sitzt in einem großen Betongebäude

Tag 39, Niedersachsen, Bergen-Belsen: Im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen begegne ich Diego Bernardini aus Zürich. Der Schweizer besucht seit Jahren Gendenkstätten von ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern. „Vergessen heißt verraten“ ist sein Credo. Heute ist er das erste Mal in Bergen-Belsen. Angefangen hat es vor 12 Jahren, da war er im KZ Buchenwald. Das hat ihn so sehr berührt, dass er danach das Gefühl hatte, weitere Orte aufsuchen zu müssen. Eine Lehre, die er daraus zieht, ist der Respekt vor dem Leben.

Kannst Du Dich dann an den ersten Moment erinnern, in dem Du an einen Abbruch gedacht hast?

Ja, das war ein Schlüsselmoment an Tag sechs, als ich in Köln war. Es war ein absoluter Dauerregentag und mein damaliges, nicht wasserdichtes iPhone hatte durch die Nässe den Geist aufgegeben. Ich war gerade am Kölner Stadtrand und auf dem Weg zu einem Freund aus Köln, bei dem ich übernachten wollte. Den konnte ich jetzt aber weder erreichen, noch wusste ich seine Adresse auswendig. Eine extrem blöde Situation, in der ich wirklich überlegt habe, ob das alles noch Sinn macht.

Am Ende habe ich doch zu ihm gefunden, konnte mich aufwärmen und bemerkte zu meinem Glück, dass ich in der einzigen Stadt auf der Strecke war, in der es einen Apple Store gab. Am nächsten Tag habe ich dort ein neues, wasserdichtes Handy gekauft, konnte meine ganzen Daten übertragen und mit meiner Navigations-App weiterlaufen. Diese Situation hatte mir auch bewusst gemacht hat, wie unglaublich abhängig ich von diesem Ding bin.

Eine Woche später im Sauerland gab es eine weitere Schwierigkeit: Ich hatte einen Meniskusriss. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, ich hatte nur Schmerzen im Knie. Ich bin noch eine Woche bis Kassel in Schonhaltung gewandert und in einer Orthopädieambulanz vor Ort bekam ich die Diagnose zusammen mit der Empfehlung, den nächsten Zug nach Hause zu nehmen, um mich operieren zu lassen.

Das ging natürlich nicht, schließlich hatte ich mein Projekt begonnen und noch 36 Tage vor mir. Ich habe dem Arzt die Situation geschildert und er gab mir Schmerztabletten mit den Worten: „Sie benötigen ja sowieso 36 Tage, bis sie als Kassenpatient einen Termin für die OP bekommen.“

Menschen posieren unter dem Schild "Dollhouse"

Tag 43, Hamburg, St. Pauli, Reeperbahn: v.l.n.r.: Laura, Cristina, Sirka und Annika sind auf dem Weg zum Konzert des Rappers „Fetty Wap“, der heute im Club „Große Freiheit 36“ auftritt. Die Freundinnen feiern ihren ersten gemeinsamen Hamburg-Besuch.

Also hast Du unterwegs den Termin gemacht und als zu Hause ankamst, war die Operation dran?

Ja, eine Woche nach meiner Ankunft zu Hause hatte ich den OP-Termin.

Respekt, dass Du das dann trotzdem durchgezogen hast.

Da ich nie Spitzensport gemacht habe oder mich körperlich herausgefordert habe, gab es Momente, in denen ich mich gefragt habe, was ich hier eigentlich mache. Momente, in denen ich körperlich einfach an meine Grenzen kam. Ich wusste zudem nicht, wohin das alles führt, außer dass ich erst einmal für mich diese Erfahrungen mache. Wird das je ein weiterer Mensch sehen?

Du bist 2017 und 2019 Deine Wanderungen angetreten. Man könnte sagen, Du hast Deutschland vor der Pandemie portraitiert, ohne es zu wissen. Ob die Menschen heute anders auf Dich und Deine Kamera reagieren würden?

Das glaube ich absolut. Ich habe während der Pandemie sehr früh ein Corona-Projekt fotografiert und mich mit Menschen im Lockdown beschäftigt. Das war im März 2020 und da habe ich auch oft gedacht: Letztes Jahr bist Du so unkompliziert auf Fremde zugegangen und jetzt ist alles anders.

Auf Ausstellungen werde ich oft gefragt, ob ich jetzt noch einmal so eine Wanderung machen würde und ich denke, da hast Du vollkommen recht mit Deiner Frage und Deiner Intention: Das würde heute definitiv schwieriger werden.

Das Zwischenmenschliche agieren ist nicht mehr so wie damals. Ob die Leute beim Sprechen einfach etwas distanzierter stehen oder ob sie sich überhaupt ansprechen lassen, weil sie skeptisch sind. Diese Leichtigkeit, mit der ich damals auf Menschen traf und durch die ich kurz in ihr Leben blicken durfte, fehlt jetzt oft.

Tanzende Menschen mit Ventilator

Tag 7, Bayern, Memmingen: Sonntagsgottesdienst der lokalen Kirche der Pfingstbewegung. Die meisten Mitglieder kommen aus Nigeria, Liberia, Kenia und Ghana. Ein wichtiger Teil des Gottesdienstes ist Lobpreis und Anbetung durch das gemeinsame Singen von Gebeten.

Ich bin ein eher schüchterner Mensch und auch schon vor der Pandemie war mir der Gedanke, eine fremde Person um ein Portrait bitten zu müssen, eher unangenehm. Kannst Du das nachvollziehen? Ich habe das Gefühl, Dir fällt das sehr leicht.

Ja, ich kann das vollkommen nachvollziehen. Die Menschen sind divers. Ich bin gerne kommunikativ und scheue nicht Fremde anzusprechen, das war für dieses Projekt mein Glück. Ich spreche die Menschen an, weil mich ihr Leben interessiert und das wirklich, ohne voreingenommen zu sein. Wahrscheinlich ist das etwas, was die Leute spüren und weshalb ich meistens ernst genommen werde.

Das schließt aber nicht aus, dass man nicht auch als schüchterner Mensch mit Fremden in Kontakt kommen kann. Es ist wesentlich einfacher, als man denkt. Auf meinen Wanderungen bewege ich mich ausschließlich zu Fuß. Die Menschen sehen mich schon von ganz weit weg in ihre Richtung laufen. Wenn sich jemand zu Fuß langsam nähert, dann ist das etwas ganz anderes, als wenn man mit dem Auto abbremst, rausspringt und eine Kamera in der Hand hat. Schon dadurch hat man also eine Art Vertrauensvorsprung.

Außerdem kannte ich die jeweilige Gegend. Ich war ja in den jeweils letzten 24 Stunden immer in der Nähe gewesen, maximal 20 Kilometer entfernt. Das heißt: Das, was ich gesehen und erlebt habe, kennt die Person mit großer Sicherheit auch und darüber konnte ich sprechen. „Das Haus am Dorfeingang ist ja abgebrannt, was ist denn da passiert?“ „Die große Baustelle da neben dem Kindergarten, was wird denn dort gebaut?“ Ich hatte immer etwas, über das ich reden konnte, als wenn ich schon lange im Ort gelebt hätte. Oder ich wusste: Gestern hat’s ein schweres Gewitter gegeben, 10 Kilometer entfernt. Das hat die Person hier sicherlich auch mitbekommen. Dadurch hat sich oft selbst in Gegenden, wo die Bewohner*innen vom Klischee her mutmaßlich wortkarger sind, immer ein Gespräch ergeben.

Ich denke, dass Du als Mensch, wenn Du Offenheit und Ehrlichkeit signalisierst, nur gewinnen kannst. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Ich habe es auf meinen Wanderungen nur einmal erlebt, dass jemand nicht fotografiert werden wollte. Aber ich hatte trotzdem ein intensives Gespräch mit der Person.

Kind im Wald

Tag 14, Baden-Württemberg, Wald am Fischbach bei Stocken: Anton Eckl geht mit seinen Eltern gern im Wald spazieren. Sein Lieblingsspielzeug, ein Akkubohrer, ist immer dabei.

Wie hast Du entschieden, wen Du fotografierst?

Ich habe mit mehr Menschen gesprochen, als ich fotografiert habe. Nur wenn beides passte – wenn ich das Gefühl habe, da ist eine Geschichte, die wichtig ist und da ist auch ein Bild, das ich festhalten kann – dann habe ich gefragt.

Es dauert auch einige Zeit mit der Großformatkamera, bis man ein Bild gemacht hat. Ich wollte nicht schnell mit dem Handy fotografieren, sondern es sollte wirklich ein Prozess sein, bei dem ich mir gut überlegen muss, ob ich den Rucksack für das Bild runternehme und die Kamera aufbaue.

Diese Großformatkamera macht sicher auch mehr Eindruck und die Leute nehmen Dich als Fotografen ernster, als wenn Du da mit einem Handy kommst, um ein Bild zu machen.

Ja, das ist natürlich ein alter Trick. Je größer so eine Kamera ist, umso imposanter. Vor allem in der heutigen Zeit, weil sonst alles immer kleiner wird. Wenn ich dann mit der Cambo, dem Phase-One-Rückteil, Lupe und Stativ da stehe, macht das schon Eindruck. Ich hatte aber eher das Gefühl, dass die Leute es wertschätzen, dass man sich diese Mühe für das Foto von ihnen macht.

Es war aber auf keinen Fall eine Strategie, dass ich mit dieser Technik jemanden einfacher zum Fotografieren überreden kann. Der Vorsatz war es, das Gesehene genau abzubilden. Ich wusste, dass zwei, drei Aufnahmen in hoher Auflösung ausreichen können, wenn sie gut genug überlegt sind. Man muss nicht 20 oder 30 Mal auf den Auslöser drücken.

Regenschauer über einem Feld in der Ferne

Tag 46, Sachsen, Hohburkersdorf: Aussicht vom „Rundblick“ in der Sächsischen Schweiz auf einen durchziehenden Regenschauer.

Der Nachteil der Kamera ist natürlich, dass Du schnelle Momente auch leicht verpasst. Es gibt zum Beispiel diesen Regenschauer im Buch und ich weiß, wie schnell diese vergehen oder im schlimmsten Fall auch auf Dich zukommen.

Das Foto ist genau aus diesem Grund eines meiner Lieblingsbilder. Es entstand zum Ende der ersten Reise in Sachsen. Ich war gerade auf einer Anhöhe, sah diesen Regenschauer und hatte so einen inneren Konflikt: Zum einen war es die Chance auf ein wahnsinniges Bild, aber wenn der Regen auf mich zukommt, wäre ich klitschnass und schaffe es vielleicht nicht, die Kamera rechtzeitig einzupacken. Ich habe es dann riskiert und war dankbar, dieses Naturphänomen mit so einer Kamera fotografiert zu haben.

Das Bild wirkt noch imposanter, wenn man es groß sieht. Es gibt viele Details in den Wolken und diesem Acker. Das war großartig. Aber klar: Viele andere kleine Momente wie Begegnungen mit Wildtieren, die plötzlich vor mir standen, konnte ich nicht festhalten. Schon wenn ich nur versuchte, den Rucksack abzusetzen, war der Moment vorbei. Später habe ich es auch gar nicht mehr versucht, sondern habe es einfach nur still genossen.

Eine Frau lehnt an einem Baum

Tag 15, Nordrhein-Westfalen, Jagdhaus: Annette Schlingmann aus Hilversum in den Niederlanden besucht erstmalig das Sauerland. Sie möchte einfach mal „Berge und Wald erfahren“, ohne sonderlich weit zu reisen.

Ich kann mir vorstellen, dass man bei so einer Reise viel über Deutschland lernt, aber vielleicht noch mehr über die eigenen Vorurteile zu bestimmten Regionen. Wie ging es Dir damit?

Ich denke, dass kein Mensch frei von Vorurteilen ist. Es wäre anmaßend, wenn ich das von mir behaupten würde. Aber ich versuche schon, ein toleranter und offener Mensch zu sein. Ich bin auch Fotojournalist und es gibt erst einmal kein Gespräch, auf das ich mich nicht einlasse, bis zu einem gewissen Punkt. Wenn Leute sagen, die Erde ist flach, sie also gewisse Dinge, die einfach wissenschaftlicher Konsens sind, ablehnen, dann finde ich, dass es eine Auseinandersetzung nicht wert ist.

Aber ich beziehe mich jetzt zum Beispiel auf zwei politische Ereignisse, denen ich auf meiner Wanderung begegnet bin. Das war einmal die politisch Linke Bewegung im Hambacher Forst. Im Jahr 2017 gab es das Wiesencamp und dort sind die Aktivist*innen professionell mit mir als Fotografen umgegangen.

Etwa fünf Wochen später war ich dann in Dresden auf einer Pegida-Veranstaltung. Es war Zufall, dass ich genau an einem Sonntag in Dresden ankam und beschloss, dann noch bis Montag zu bleiben. Normalerweise bin ich bei meiner Wanderung selten mehr als einen Tag in einer Stadt geblieben.

Diese Pegida-Veranstaltung war grenzwertig für mich, wenn wir über Klischees und Vorurteile reden. Ich stand im Zentrum der Demonstrierenden und hatte zuvor noch keine Pegida-Demo miterlebt. Dadurch, dass ich von Anfang an bei den Demonstrierenden war, war ich schnell umringt von der Polizei und den Menschen der Gegendemo. Ich habe mich überhaupt nicht wegbewegt, weil ich einen guten Standpunkt zum Fotografieren gefunden hatte. Zum Abschluss der Kundgebung, liefen die Pegida-Teilnehmer*innen im Karree durch die Altstadt. Das war wirklich heftig.

Sie fingen an, die Gegendemonstrant*innen radikal anzupöbeln und als ich mitlief, um mir das genau anzugucken und zu fotografieren, musste ich irgendwann aus dem Pulk zur Seite treten, weil ich das Gefühl hatte, dass alle, die mich da sehen, denken, dass ich zu denen gehöre. Die Pegida-Leute benahmen sich so unter aller Sau! In dem Moment war ein Dialog nicht mehr möglich. Das ist mir wirklich nahe gegangen und über das Erlebnis habe ich auch noch ausfühlich in meinem Blog geschrieben. Das Klischee alter, weißer Männer, die so verbittert sind, vielleicht auch Wendeverlierer sind – in diesem Moment hat es sich leider erfüllt.

Ansonsten bestätigen die Ausnahmen häufig die Regel. Du hast Leute, die erfüllen beispielsweise das Klischee eines Bayern und im selben Dorf leben Menschen, die sind komplett anders. Wo kommt dieses Klischee aber her? Reicht es schon, nur weil jemand eine Lederhose trägt, mit starkem Dialekt spricht und gern Weißbier trinkt, um irgendwie dem Klischee zu entsprechen? Da muss man sich immer wieder selbst hinterfragen. Liegt es vielleicht schon an meiner Erwartungshaltung?

Tag 44, Sachsen, Dresden. Hung und seine Frau Trang lassen Hochzeitsbilder vor der klassischen Ansicht von Dresdens Altstadt machen. Die beiden Vietnames*innen leben schon seit 20 Jahren in Deutschland und betreiben jetzt ein Restaurant in Leipzig.

Dadurch, dass Du ja zwei Tage in Dresden warst, hat die Stadt im Buch auch zwei Bilder bekommen – es ist auch eine sehr imposante Doppelseite geworden. Rechts hast Du das Bild dieser Demonstration und links sieht man ein Hochzeitspaar, das zufällig auch auf dem Titelbild Deines Buches zu sehen ist. Diese beiden Bilder zeigen in dem Moment zwei Seiten von Dresden.

Ja und das Kuriose ist, dass das Hochzeitspaar ursprünglich aus Vietnam kommt und einen Asia-Imbiss in Leipzig betreibt. Für die Hochzeitsbilder sind sie aber extra nach Dresden gefahren, weil ihnen Leipzig nicht Deutsch genug aussieht. Sie wollten ihre Verwandten in Vietnam mit dem Elbpanorama beeindrucken. So sind wir wieder bei den Klischees.

Wäre ich nur einen Tag später oder früher in Dresden gewesen, hätte ich dieses Paar nicht getroffen. Sicher hätte ich auch einen Tag später tolle Geschichten gefunden, aber dieser Zufall macht es zu etwas Besonderem. Es sind Geschichten, die einfach passieren und man muss sie nur noch aufsammeln.

Haben Dich die Wanderungen auf ein neues Thema oder Projekt für die Zukunft gebracht?

Durch die beiden Wanderungen habe ich jetzt eine größere Affinität zu Langzeitprojekten. Früher habe ich viel mehr angewandt gearbeitet und hatte oft nicht die Zeit in die Tiefe zu gehen.

Zu Beginn der Pandemie, als der erste Lockdown kam, habe ich zum Beispiel mein Corona-Projekt „Der Mensch bleibt ein soziales Wesen“ umgesetzt. Ich wollte darin untersuchen, ob wir trotz Isolation sozial bleiben. In diesem Kontext habe ich auch die Themen Geburt, Hochzeit und Trauer fotografiert – alles unter dem Aspekt des „Social Distancing“. Dabei habe ich auch einen ganz jungen Bestatter kennengelernt. Das Gespräch mit ihm hat mich nachhaltig beeindruckt. Ich war überrascht, wie man im Alter von 20 Jahren schon so lebenserfahren sein kann und über den Tod spricht.

Mich interessiert, ob der Beruf einen dazu macht oder ob man schon die Anlage in sich trägt und deshalb diesen Job wählt. Dieser Frage gehe ich aktuell nach. Ich habe sechs Monate lang für jeweils eine Woche eine Bestatterin oder einen Bestatter in ihrem Beruf und Leben begleitet.

Das klingt sehr spannend! Ich hoffe, sobald das Projekt fertig ist, können wir noch einmal miteinander auch darüber reden. Vielen Dank für das schöne Gespräch!

Mann wirft einen Ball in einen Basketballkorb

Tag 7, Bayern, Memmingen: Alexander Derksen wirft ein paar Trainingskörbe auf dem Sportplatz der Sebastian-Lotzer-Realschule. Der gebürtige Mindener ist direkt nach dem Studium wegen des alpinen Sportangebots ins Allgäu gezogen und arbeitet dort nun als Stadtplaner.

Informationen zum Buch

„Durch Deutschland: Zwei Wanderungen in 101 Tagen.“ von Andreas Teichmann
Sprache: Deutsch
Einband: Gebunden
Seiten: 120
Maße: 24,6 x 30,4 cm
Verlag: Edition Bildperlen
Preis: 55 €

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