Kind füttert Küken
19. Mai 2022 Lesezeit: ~11 Minuten

Wer war Minna Keene?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Minna Keene eine der ersten Berufsfotografinnen, feierte mit ihren piktoralistischen Fotografien weltweite Erfolge und teilte dennoch das Schicksal der meisten ihrer Zeitgenossinnen: Sie wurde für lange Zeit vergessen.

Minna Keene wurde 1861 im nordhessischen Bad Arolsen als Minna Bergmann geboren. Ihre Familie geht auf französische Hugenotten zurück, die im späten 17. Jahrhundert nach Deutschland geflohen waren und dort vielerorts eigene Kirchengemeinden gegründet hatten.

Abgesehen davon, dass sie mindestens zwei Brüder hatte, die in der Heimat blieben und später auf der Seite Deutschlands im Ersten Weltkrieg kämpften (während ihr eigener Sohn sich derweil als kanadischer Soldat auf der Gegenseite befinden sollte), sind leider keine weiteren Details über Minna Keenes Familie, ihre Kindheit oder Jugend bekannt.

Ast mit Blättern und Früchten

Um das Jahr 1880 wanderte sie ins Vereinigte Königreich aus, wo sie zunächst als Kindermädchen in der Gegend von Scarborough arbeitete. 1882 lernte sie Caleb Keene (1862–1954) kennen, der sich zu dieser Zeit in einer Ausbildung zum Dekorateur an der Scarborough Art School befand.

Caleb Keene war der jüngere Bruder des Landschaftsmalers Elmer Ezra Keene (1853–1929) und betätigte sich ebenfalls zeitweise als Landschaftsmaler. Im Jahr 1887 heirateten Minna und Caleb Keene in Chelsea. Minna nahm seinen Nachnamen und auch seine Religion an – die Familie Keene gehörte den Quäkern an.

Das Paar lebte zunächst in Bath und später in Bristol, wo Caleb nach seiner Ausbildung der Inhaber einer Maler- und Dekorationsfirma wurde. Sie bekamen drei Kinder: Louis (geboren 1888), Mona (geboren 1890) und Violet (geboren 1893), wobei ihre erste Tochter Mona noch im Kleinkindalter verstarb.

Stillleben

Zu Beginn der 1880er Jahre beschäftigten sich Caleb und sein Bruder Elmer Ezra mit der Fotografie, die zu dieser Zeit bereits eine größere Verbreitung gefunden hatte. Die Männer verloren relativ schnell wieder das Interesse an diesem Medium und widmeten sich weiter der Malerei, doch auf diesem Weg gelangte eine Kamera in die Hände von Minna Keene, die sich zunächst zum Zeitvertreib der Fotografie widmete.

Ihre ersten Aufnahmen beschäftigten sich mit Pflanzen in verschiedenen Wachstumsstadien. Dies war zum einen ein fotografisches Betätigungsfeld, das Frauen in dieser Zeit zugestanden – wenn auch nicht als „Kunst“ verstanden – wurde und andererseits ein dankbares Genre, um die technischen Feinheiten der Fotografie beherrschen zu lernen.

Innerhalb weniger Jahre erweiterte sie ihr Repertoire neben Stillleben auch auf Landschafts- und Naturstudien sowie Portraits und Alltagsszenen. Eine Serie ornithologischer Fotografien wurde als Illustrationen in englischen Lehrbüchern verwendet, die noch mehrere Jahrzehnte lang international in Gebrauch waren.

PortraitPortrait

In den späten 1890er Jahren reichte Minna Keene ihre Arbeiten zu Wettbewerben der Kunstzeitschrift „The Studio“ sowie bei regionalen fotografischen Gesellschaften ein. Damit konnte sie erste Auszeichnungen und eine beginnende Aufmerksamkeit für ihr Werk verbuchen.

Schon nach wenigen Jahren der Betätigung in der Fotografie zeigt sich, dass Minna Keene ein feines Gespür dafür hatte, die Möglichkeiten zu erkennen, ihren fotografischen Erfolg auch in finanzielle Gewinne als Berufsfotografin zu verwandeln. Ihre erste Veröffentlichung war der schmale Band „Keene’s Nature Studies“ im Jahr 1903 mit Neuauflagen in den Jahren 1905 und 1906.

1903 wanderte die Familie nach Kapstadt in Südafrika aus, wo ihr Mann wieder ein Geschäft für Malerei und Dekoration aufbaute. Sicherlich auch der heftigen Wirtschaftsdepression der Zeit geschuldet, liefen seine Geschäfte in ihrer gesamten Zeit in Südafrika leider nicht gut und so häufte Caleb Schulden an.

Möglicherweise war dies auch ein wichtiger Grund dafür, dass Minna Keene sich langsam zur Hauptverdienerin der Familie entwickelte und vehement die Vermarktung ihrer Fotografien vorantrieb: Während sie ihre zwei Kinder großzog, betrieb sie auch zwei Fotostudios in Kapstadt.

PortraitPortrait

Sie verkehrte in künstlerisch und politisch gehobenen Kreisen, die sich entsprechend auch auf den in ihren Fotostudios entstandenen Portraits wiederfinden. International und insbesondere in ihre alte Heimat war sie über fotografische Gesellschaften gut mit anderen Piktoralist*innen der Zeit vernetzt.

Sie war Mitglied des London Salon of Photography, eine von insgesamt nur fünf weiblichen Fellows der Royal Photographic Society und Kandidatin für die Mitgliedschaft im Brotherhood of the Linked Ring, zu deren Mitgliedern auch Alfred Stieglitz sowie Gertrude Käsebier zählten.

Letztere war eine fotografische Gesellschaft, die sich darum bemühte, das Ansehen der Fotografie als eigenständige Kunst sowie Wissenschaft in der Welt der bildenden Kunst zu fördern. Sie löste sich allerdings auf, bevor eine Abstimmung über die Aufnahme von Minna Keene durchgeführen werden konnte.

PortraitFrau mit Sonnenhut und Blumen

1907 fand eine Ausstellung von Minna Keenes Fotografien über das Leben der Buren in Südafrika im Lyceum Club in London statt. 1909 wurde die Arbeit erneut in der Ausstellung „Pictorial Photographs by Colonial Workers“ in der Amateur Photographer’s Little Gallery in London gezeigt.

Im Jahr 1910 stellte sie in der 55. Jahresausstellung der Royal Photographic Society of Great Britain aus und war auch in jedem weiteren Jahr bis 1929 Teil der Jahresausstellungen. 1911 wurde das Foto ihrer Tochter Violet mit dem Titel „Pomegranates“ auf dem Londoner Fotografischen Salon als Bild des Jahres ausgezeichnet.

Minna Keene hielt sich auffällig stark damit zurück, sich auch in den fotografischen Gesellschaften, der piktoralistischen Szene sowie den Publikationen vor Ort in Südafrika zu engagieren. Allerdings zeige sie dort ihre Arbeiten in zahlreichen selbstorganisierten Ausstellungen und war sehr darum bemüht, ihre Arbeiten als Reproduktionen und Postkartenauflagen zu vertreiben.

Kleinkind mit zwei ÄpfelnKindermädchen

Minna Keenes Portraits lassen sich in den Piktoralismus einordnen. Eine fotografische Strömung ab den 1890er Jahren, die sich insbesondere in Fragen der Komposition und Lichtsetzung an der britischen und französischen Malerei des 19. Jahrhunderts orientiert und die Fotografie als Medium des künstlerischen Ausdrucks betrachtet und behandelt.

Auch andere Frauen drängten zu dieser Zeit vermehrt in den Bereich der Fotografie und betätigten sich nicht selten auch als professionelle Fotografinnen. In diesem historischen Kontext etablierte sich das Narrativ der Fotografie als ein für Frauen geeigneter Beruf – aus allerdings grundlegend anderen Gründen als Männer ihn ergriffen.

Mit diesem erzählerischen Kniff konnten einerseits auch Fotografinnen internationale Erfolge mit ihrem Werk feiern, von männlichen Kollegen für ihre Arbeiten gelobt werden, während gleichzeitig patriarchale Vorstellungen von Weiblichkeit und die als natürlich oder gottgegeben betrachteten sexuellen Differenzen zwischen den Geschlechtern davon unberührt bleiben.

Frau beim Rupfen von GeflügelBlumenverkäuferin

Wie auch viele ihrer Kolleginnen fotografierte Minna Keene Freundinnen, ihre Kinder oder bekannte weibliche Persönlichkeiten ihrer Zeit. Die Bildsprache verortet Frauen dabei oft in einer Pflanzenumgebung (Minna Keene hatte für solche Aufnahmen ein eigenes Gartenstudio in Kapstadt), da Frauen traditionell mit der Natur und Männer mit der Kultur assoziiert wurden.

Interessanterweise wurden viele Fotografinnen der Zeit dafür kritisiert, ihre Freundinnen und Kinder als Modelle für ihre Bilder zu nutzen, während die männlichen Kollegen – auch in der Malerei, auf die der Piktoralismus sich bezog – völlig unbehelligt das Gleiche taten und ihre Werke verehrt wurden.

StraßenverkäuferFrau mit Baby auf dem Rücken

Ein Themenfeld, dem Minna Keene sich während ihrer Zeit in Südafrika schwerpunktmäßig widmete und für das sie die meiste Anerkennung erhielt, war das Fotografieren von Alltagsszenen und Portraits der einheimischen schwarzen Bevölkerung von Kapmalaien, Buren und Hugenotten, an deren vermeintlicher Exotik die gehobene weiße Gesellschaft ein Interesse hatte.

Aus heutiger Sicht auffällig ist, dass all diese stellvertretend für bestimmte „Typen“ portraitierten Personen anonym bleiben im Gegensatz zu Portraits, die Minna Keene von Mitgliedern der weißen Gesellschaft aufnahm – diese Bilder sind wie selbstverständlich mit den Namen der Abgebildeten betitelt worden.

Darin zeigt sich die unkritische Übernahme der rassistischen Portraitkonventionen der Zeit, in der Minna Keene lebte. Zwar wandte sie die visuellen Ideen vom Abbilden innerer Gefühlzustände des Piktoralismus auf ihre „Typenfotografien“ an, doch in den Titeln finden sich unreflektiert die kolonialen „Rassenkategorien“ reproduziert.

LandschaftLandschaft

1913 ließen sich Caleb Keenes geschäftliche Bemühungen in Südafrika schließlich nicht mehr aufrechterhalten und sein Geschäft musste Insolvenz anmelden. Die Familie siedelte für einen Neuanfang nach Kanada über und ließ sich dort zunächst in Montreal, Québec nieder.

Schon kurz nach ihrer Ankunft wurde die nun bereits international bekannte Fotografin von der Canadian Pacific Railway damit beauftragt, Werbefotografien der kanadischen Rocky Mountains zu erstellen. Während der Umsetzung des Auftrags 1914/1915 wurde Minna Keene von ihrer Tochter Violet begleitet und bei der Arbeit unterstützt.

Minna Keene setzte ihre Karriere fort und eröffnete erneut ein Studio vor Ort in Montreal. Als die Familie 1919/1920 nach Toronto umzog, eröffnete sie dort ein zweites Studio. Auch im Studio wurde Minna Keene von ihrer Tochter Violet fotografisch unterstützt, die bald die Arbeit im Studio in Montreal ganz übernahm und später selbst eine gefragte Fotografin im Fotostudio Eaton’s in Toronto werden würde.

Frauen bei Hausarbeit

1925 wurde Minna Keene in einer Publikation über ihre Werke als „eine der größten Fotografinnen der Welt“ bezeichnet und war entsprechend international bekannt. Dennoch zeigen Beschreibungen wie „charmante Gastgeberin“ in einem Artikel der Zeitschrift Maclean’s im Jahr 1926 die Glasdecke der hierarchischen Vorstellungen, an die selbst die erfolgreichsten Frauen der Zeit stießen.

Selbst in diesem Artikel wird noch betont, dass Minna Keene in allererster Linie ja wohl eine erfolgreiche Ehefrau und Mutter sei – vor ihrem internationalen kommerziellen Erfolg als Fotografin. Oder wie die Autorin Kristina Huneault das Phänomen zutreffend beschreibt:

In der Fotografie, wie auch im Kunsthandwerk und in der Malerei, strukturierten klassen- und geschlechtsspezifische Erwartungen an angemessenes weibliches Verhalten eindeutig das Feld der weiblicher Professionalität.

1921/1922 zog die Familie erneut um und ließ sich in Oakville, Ontario nieder. In den 1930er Jahren stellte Minna Keene weiterhin international aus, ihrer Arbeiten wurden auch noch viele Jahren nach der ursprünglichen Publikation nachgefragt. Sie starb 1943 in Oakville.

zwei Frauen an einem Tisch

Es erging dem Werk von Minna Keene im Folgenden wie dem vieler anderer auch international angesehener Fotografinnen, die zur Jahrhundertwende aktiv waren: Es wurde zunächst vergessen. Die Wiederentdeckung erfolgte 1983 mit der Publikation und Ausstellung „Rediscovery: Canadian Women Photographers 1841–1941“ von Laura Jones.

Dieser Prozess wurde mit der Ausstellung „Painting with Light: Art and Photography from the Pre-Raphaelites to the Modern Age“ 2016 in der Tate Britain fortgesetzt. Die Kuratorin Dr. Carol Jacobi äußerte sich in einem Interview zur Ausstellung zu diesem Phänomen der vergessenen Fotopionierinnen:

Der Prozess, in dem diese Frauen unsichtbar werden, hat viele Gründe. Einer ist, dass die Leute nicht erwarten, dass diese Frauen da sind, also suchen sie auch nicht nach ihren Arbeiten. Ihre Werke scheinen daher nicht aufbewahrt und gepflegt zu werden; also werden auch keine Biografien über sie geschrieben. Wir neigen so dazu, sie einfach aus den Augen zu verlieren.

alte Frau näht am Fenster

Quellen und weiterführende Literatur

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